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Sudetendeutsche Akademie der Wissenschaften und Künste

Aktuelles aus den Reihen der Akademie


 

Widmar Tanner:
Gregor Mendel und die Folgen: Von den Erbsen zu mRNA-Impfstoffen

Zum 200. Geburtstag von Johann Gregor Mendel (1822 - 1884)
Vorschau auf Band 40 der Schriften der Sudetendeutschen Akademie der Wissenschaften und Künste

Gregor Johann Mendel gehört zu der Handvoll von Wissenschaftlern weltweit, die auch einer größeren Allgemeinheit bekannt sind. Das liegt zum einen an seinem besonderen Lebensweg. 1822 als Sohn einer Kleinbauern-Familie in Heinzendorf im Kuhländchen/Mähren geboren, muss er seine gymnasiale Ausbildung aus wirtschaftlichen Gründen abbrechen. Er tritt in das Augustinerkloster in Brünn ein und unterrichtet als Hilfslehrer in Klassen mit über 100 Schülern u. a. die Fächer Physik und Biologie. Erst 2 Jahre nach dem Ausscheiden Mendels aus dem Schuldienst, wird die Höchstzahl durch ein Schulgesetz in Österreich-Ungarn auf 60 Schüler pro Klasse begrenzt. Daneben, sozusagen in seiner Freizeit, beschäftigt er sich mit Erbsen. Er kreuzt Erbsenpflanzen mit unterschiedlich aussehenden Samen (z. B. grüne, gelbe; glatte, runzelige) und verfolgt, wie diese Eigenschaften an die nächsten Generationen weitergegeben werden. Aus seinen Beobachtungen leitete er Regeln ab, die er 1865 zum ersten Mal im „Naturforschenden Verein Brünn“ vortrug. Den Zuhörern wurde wohl zu schwere Kost zugemutet. Im Protokoll der Sitzung heißt es: „keine Fragen, keine Diskussion“. Im drauffolgenden Jahr veröffentlichte er seine Ergebnisse in einer 43 seitigen Schrift in den „Verhandlungen des Vereins“, einem Organ mit geringer Verbreitung. 1868 wurde er zum Abt des Klosters gewählt, führte jedoch seine experimentellen Arbeiten in reduziertem Umfang fort. Sie schlossen auch Kreuzungsversuche mit anderen Pflanzen und mit Bienen ein.

35 Jahre lang wurden seine Regeln von niemandem aktiv wahrgenommen bzw. verstanden. Nach deren Wiederentdeckung im Jahr 1900 wurden sie die drei Mendelschen Gesetze genannt. Ein Mönch hatte die Grundlagen einer Naturwissenschaft, jene der Genetik gelegt, und dies mit Erbsen. Wer hätte je gedacht, dass man mit Erbsen etwas Bedeutendes entdecken kann. Dies alles mag dazu beigetragen haben, dass Gregor Mendel im Gedächtnis haften blieb, und sei es auch nur vage. Noch gewichtiger ist aber sicher, dass seine Entdeckungen in allen Schul- und einschlägigen universitären Lehrbüchern weltweit zu finden sind.

Was hat Mendel entdeckt? Zu den Kernaussagen seiner Arbeit zählt, dass jedes vererbbare Merkmal durch zwei „Erbfaktoren“ bestimmt wird. Ein Faktor wird von der weiblichen und einer von der männlichen Geschlechtszelle bei der Befruchtung beigetragen. Er schloss völlig richtig, dass bei der Bildung der Geschlechtszellen die Anzahl der Erbfaktoren halbiert werden muss. Weiterhin zeigte er, dass es dominante Merkmale gibt, die sich gegenüber anderen (rezessiven) durchsetzen. Die rezessiven Merkmale gehen aber nicht verloren, sondern treten nur in den Hintergrund. Sie können in Folgegenerationen wieder sichtbar werden. Und drittens zeigte er, dass Erbfaktoren unabhängig voneinander vererbt werden. Somit können neue Kombinationen von Merkmalen auftreten, was zur Grundlage der Züchtung neuer Sorten wurde. In der naturwissenschaftlich orientierten Forschung gilt beinahe ausnahmslos, dass mit jedem Ergebnis mehr neue Fragen auftauchen, als sich ursprünglich stellten. Dies gilt besonders auch für Mendels Ergebnisse, wobei auch Ausnahmen oder Abweichungen von seinen Regeln zu wichtigen neuen Einsichten führten. So beobachtete man z. B. im Lichtmikroskop fädige Strukturen im Zellkern der Zellen. Bei der Bildung von Geschlechtszellen zeigte sich, dass die Anzahl dieser Strukturen - später Chromosomen getauft - auf die Hälfte reduziert wird. Dies war genau, was Mendel für dir Erbfaktoren postulierte und war daher ein starkes Indiz dafür, dass sich die Erbfaktoren - inzwischen Gene genannt - auf den Chromosomen und im Zellkern befinden. Als sich weiterhin herausstellte, dass die 3. Mendelsche Regel der freien Kombinierbarkeit der Gene nicht uneingeschränkt gilt, sondern im Prinzip nur dann, wenn die entsprechenden Gene auf verschiedenen Chromosomen liegen, war die Chromosomentheorie der Vererbung so gut wie bewiesen.

Die wissenschaftliche Preisfrage über viel Jahrzehnte lautete anschließend: Was sind die Mendelsche Erbfaktoren, die Gene stofflich? Das Leben ist im Grunde genommen Chemie, wenn auch eine besonders komplizierte und so war es sinnvoll, gleichwohl sehr mühsam, nach Stoffen zu suchen, aus denen die Gene bestehen. Der schweizer Mediziner und Zeitgenosse von Mendel, Johann Alfred Miescher fand bereits 1869 eine neue Stoffklasse in Zellkernen, das Nuklein (später Nukleinsäuren genannt), aber zwischen den Entdeckungen der beiden Forscher eine Beziehung zu vermuten, lagen damals natürlich noch Lichtjahre. Schließlich hat 1944 der kanadische Mediziner Oswald Avery den ersten überzeugenden Beweis dafür erbracht, dass Gene aus den Miescherschen Nukleinsäuren bestehen. Wir kennen die Substanz heute als DNS oder DNA (für Desoxyribo-Nuklein-Säure, bzw. A für engl. acid). DNA ist ein fädiges, relativ langes Molekül, das in Hunderte definierter Abschnitte, den einzelnen Genen aufgeteilt ist. Die genaue chemische Zusammensetzung und der genaue Aufbau der DNA wurde in der Folgezeit rasch aufgeklärt, was mit den Namen Erwin Chargaff, Rosalind Franklin, Maurice Wilkins, James Watson und Francis Crick verbunden ist. Die Veröffentlichung der Struktur machte jedermann - falls er sich dafür interessierte - sofort klar, dass das Molekül die Information für seine identische Verdopplung in sich trägt, was die Voraussetzung für die exakte Weitergabe einer Erbinformation darstellt. Damit waren die Mendelschen Erbfaktoren auch in ihrer Chemie aufgeklärt. Wie gibt aber die jeweilige DNA den Samen der Erbsenpflanzen Bescheid, welche Farbe oder welche Oberflächenstruktur sie auszubilden haben?

In den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts etablierte sich eine neue Forschungsrichtung, die Molekularbiologie, deren Eckpfeiler wiederum die Genetik war. Die Molekularbiologen befassten sich u.a. genau mit der Frage, wie Gene den Phänotyp hervorbringen, worunter man die wahrnehmbaren Eigenschaften des Organismus versteht. Die Antwort auf die Frage kann hier extrem verkürzt wiedergegeben werden. Eine Heerschar von Wissenschaftlern fand heraus, dass die Information der DNA für die Bildung von Eiweißen, auch Proteine genannt, genutzt wird. Proteine können am ehesten mit Perlenketten verglichen werden, bei denen 21 verschieden farbige Perlen zu Hunderten oder sogar zu Tausenden auf einem Faden aufgereiht sind. Die DNA enthält die Information, über die Reihenfolge der Perlen in der Kette. Dazu wird von dem Gen, also der DNA im Zellkern, zuerst eine Abschrift hergestellt. Dies ist nötig, weil sich die Einrichtungen für die Synthese von Proteinen im Zellplasma außerhalb des Zellkerns befinden. Die Kopie verlässt also den Zellkern und überbringt die Information zu Hunderten kleinster Protein-Synthese-Maschinen im Zellplasma. Die Kopie ist ebenfalls eine Nukleinsäure, die mRNA oder Boten-RNA (m für message = Botschaft) genannt wird. Proteine, von denen alle Lebewesen viele tausend verschiedene besitzen, sind als Enzyme für alle chemischen Reaktionen der Zellen verantwortlich, also z.B. auch für die Synthese bestimmter Blüten- oder Samenfarbstoffe. Damit schließt sich der Kreis vom Gen zum Merkmal.

Zudem fanden die Molekularbiologen, dass einzelne Gene an und abgeschaltet werden können. So besitzen die Zellkerne aller Zellen eines Organismus die Gesamtheit all ihrer Gene, aber diese sind nur zum Teil in bestimmten Zellen oder Geweben, oder auch nur zu bestimmten Zeiten angeschaltet. Nur die aktiven Gene sind mit der Herstellung von Proteinen beschäftigt. All diese Fakten wurden sozusagen von Mendels wissenschaftlichen Nachfolgern für Tausende von Genen bei unterschiedlichsten Lebewesen, von Bakterien bis zum Menschen nachgewiesen, und für die Aufklärung all dieser Zusammenhänge haben mehr als drei Dutzend Wissenschaftler Nobel-Preise für Physiologie oder Medizin, oder für Chemie erhalten.

Gregor Mendel hatte bei seinen Versuchen vor allem auch Anwendungsaspekte im Sinn. Sein Vorgänger als Abt, Cyrill Napp, war ein Experte auf dem Gebiet der Schafzucht, die für Brünns Wollindustrie von großer Bedeutung war, führte die Gegend doch den Spitznamen „Mährisches Manchester“. Mendel andererseits hatte zumindest das Ziel vor Augen, einmal neue Gemüse- und Obstsorten zu züchten. Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass die beiden regen Gedankenaustausch pflegten. Napp erkannte auch klar Mendels Begabung zum wissenschaftlichen Arbeiten und stellte ihn von priesterlichen Aufgaben frei, um sich seinen Untersuchungen intensiv widmen zu können.

Wie erwähnt, hat Johann Gregor Mendel zu Lebzeiten keine Anerkennung für seine Leistung erfahren. Trotzdem schrieb er in einem Brief kurz vor seinem Tod (zitiert nach Krizenecky J, 1965): „Mir haben meine wissenschaftlichen Arbeiten viel Befriedigung gebracht, und ich bin überzeugt, dass es nicht lange dauern wird, da die ganze Welt die Ergebnisse dieser Arbeit anerkennen wird“. Noch mussten allerdings dafür seit seinem Tod im Januar 1884 weitere 16 Jahre vergehen.

Umso mehr würde sich Mendel an seinem 200sten Geburtstag freuen, wenn er sähe, welche immense praktische Bedeutung die Genetik heute besitzt. Dies gilt sowohl für all unsere Nutzpflanzen, die durch klassische Züchtung optimiert wurden, als auch für alle Produkte, die mit Kenntnis der molekularen Genetik, also mit Hilfe der Gentechnik hergestellt werden und wurden. Wenn wir letztere in unserem Land auch weitgehend ablehnen, sind wir doch weltweit die Hauptabnehmer für einige hundert gentechnisch hergestellte Medikamente.

Ein besonders aufregendes Beispiel der Anwendung der Gentechnik liefern in diesen Tagen die mRNA-Impfstoffe gegen Coronaviren. Die Boten-RNA oder mRNA wurde vor ziemlich genau 60 Jahren entdeckt. Dies ist ein Musterbeispiel dafür, wieviel Zeit verstreicht, bis Kenntnisse der Grundlagenforschung praktisch genutzt werden, aber auch dafür, wie absolut notwendig diese Art der Forschung ist.